Schuldumkehr – Rechtsmittel von biblischer Willkür (06.2018)

Schuldumkehr – Rechtsmittel von biblischer Willkür (06.2018)

Die folgende Argumentation wendet sich gegen ein christlich fundamentalistisches Denken, welches das Gleichnis um Jesus und die Ehebrecherin (Joh. 8) als Justizmittel zu verwenden sucht.

„Aber die Schriftgelehrten und Pharisäer brachten eine Frau, beim Ehebruch ergriffen, und stellten Sie in die Mitte und sprachen zu ihm: Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden. Mose aber hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen.“ (Joh. 8, 3-5)1

Unser heutiger Strafvollzug kommt zunächst einmal gänzlich ohne die Todesstrafe aus. Davon kann in den alttestamentarischen Gesetzen, auf die sich die Gelehrten und Pharisäer beziehen, nicht die Rede sein: Verbrennen, Steinigen, Zerhauen und Ertränken sind die Todesstrafen, die bei einem Bruch mit den von Gott gegebenen Geboten anzuwenden sind.2 Diese Gesetze sind apodiktisch. Sie sind strikt nach dem Muster „wenn …, dann …“ formuliert. Das sind Formeln, wie sie in den Algorithmen von Programmiersprachen auftauchen, aber auch in Sätzen der Geometrie oder der Logik. Was aber in der Logik unbeirrbar auf eine glasklare Wahrheit im Raum der Idee hinausläuft, offenbart sich als unmenschlich, sobald man ein solch kompromissloses Denken in der Wirklichkeit zur Anwendung bringen will. Das gilt für Jesus in derselben Weise. Er entgegnet den Pharisäern: „Wer von Euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“ Hier wird nicht die Aufklärung, sondern die Schuldumkehr zum Prinzip. Wer aber heutzutage dieses Verfahren für legitim hält, der agiert extrem, weil er seiner Umgebung jegliche Fähigkeit abspricht, elaborierte Urteile zu fällen und differenziert zu handeln.

Betrachtet man also das Beispiel von Jesus und der Ehebrecherin auf der Ebene der Fabel und wird versucht, dieses Gerüst auf eine gegenwärtige Situation zu übertragen, werden unvereinbare Positionen erzwungen, die sich nicht mehr am Rechtsfall, sondern nur noch an der Machtfrage entscheiden können. Wer auf Basis dieser Bibelstelle heutzutage ein Denken installiert, in welchem er sich in der Rolle des Jesu gefällt, der oktroyiert seinem Gegenüber gleichzeitig die Rolle von Eiferern in einem Rechtssystem auf, das keinen Widerspruch duldet. Das ist eine Verklärung der Wirklichkeit; denn es wird die Tatsache verkannt, dass die heutigen „Schriftgelehrten und Pharisäer“ in dem Bewusstsein streitbarer Gesetze leben und in einer Rechtsauffassung, deren Urteilsfindung eben keine kaschierte Willkür zum Grundprinzip erhebt.

Wenden wir uns nun der Delinquentin zu, dann erscheint uns das Urteil (Steinigung als Strafe für Ehebruch) aus heutiger Sicht in jedem Fall als maßlose Ungerechtigkeit. Der biblische Jesu stellt mitunter die Frage nach den Umständen der Straftat nicht. Sein Freispruch ist pauschal und willkürlich. Letzteres erscheint aber im Kontext der Bibelstelle als gerechtfertigt, weil es in dieser Situation das einzige Mittel sein mag, um einem so extremen Strafvollzug wie der Steinigung menschlich entgegenzutreten. Gleichsam wie die biblischen Gelehrten, die sich auf unumstößliches Gottesrecht berufen, rechtfertigt Jesu seine Entscheidung mit dem Verweis auf Ursächlichkeiten, die jenseits des Fassbaren liegen: „Ich weiß, ihr wisst nicht“3 ist seine Begründung und „wenn ich aber richte, so ist mein Richten gerecht“4, heißt es bei ihm wörtlich. Das ist anmaßend. Letztlich legitimiert er das Verfahren seiner Rechtsprechung genauso wie die Gesetze, gegen die er sich auflehnt. – Es geht hier also weder um das Einhalten einer nachvollziehbaren Verfahrensordnung noch um eine Untersuchung des Falls, sondern um das Durchsetzen eines willkürlich gefällten Urteils mittels Macht. Ein Mittel nun, um Macht über andere zu erlangen, ist das blinde Erzeugen von Schuld: „Wer von Euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“ Das Missbrauchspotenzial einer solchen Bibelstelle liegt auf der Hand. In einer derartigen Äußerung werden alle möglichen Handlungen, die personen-, zeit- und kausal unabhängig voneinander existieren, blindlings ineinander geworfen. Sich dieses Bibelzitats zu bedienen, um damit heutzutage die „Umkehr der Schuld“ zu legitimieren, ist nichts anderes als die Verklärung von Opfer und Täter. Hier wird eine Gesellschaft antizipiert, die sich gegenseitig bezichtigt und mit dem Finger aufeinander zeigt. Schuld lähmt. Der Ausweg zeigt sich dann nicht mehr anhand einer Aufklärung des Einzelfalls, sondern vereinigt sich angesichts der forcierten Undurchdringlichkeit in der Person des Selbstgerechten, der über die erzeugte Schuld ein Abhängigkeitsverhältnis generiert: „Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird Euch frei machen.“5

Selbst wer dem biblischen Jesu das Allwissen zugesteht, muss eingestehen: Wir übrigen Menschen besitzen diese Fähigkeit nicht. Deshalb unterhalten wir Institutionen, die sich am Ideal der Gewaltenteilung orientieren und die, sofern denn Rechtsverstöße an sie herangetragen werden, dazu befähigt sind, angemessen und differenziert zu reagieren – auch in Zusammenarbeit mit sozialen Diensten. Es ist uns möglich, diese Institutionen im Zweifelsfall zu hinterfragen. Das Attribut, was in einer Demokratie mit ihnen einhergeht, ist der Appell an die Verantwortung zum Handeln, die dem Erzeugen grundloser Schuld als Umgangsform entgegenzusetzen ist. Das, was der Machtmensch heutzutage über die Verdrehung der Schuldfrage zu erreichen sucht, ist das Legitimieren seiner eigenen Willkür. Hier gilt dann nur noch die Instanz des Selbstgerechten. Derjenige, der Jesus‘ Heiligkeit benutzt, weil er Jesu Worte und sein Verhalten dort nachahmt, wo Aufklärung möglich ist, wird zum Unmensch.

J.-C. P. (06.2018)

Fußnoten

1 Diese und alle folgenden Bibelstellen finden sich in Lutherbibel Schulausgabe, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart, 1999

2 Vgl. 3. Mose 20

3 Joh. 8, 14 „Ich weiß, woher ich gekommen bin und wohin ich gehe; ihr aber wisst nicht, woher ich komme und wohin ich gehe.“

4 Joh. 8, 16

5 Joh. 8, 31-32