Kleines Manifest zur Religionsbarrierefreiheit

Anmerkung: Eine Zusammenfassung der Kernforderungen finden Sie auf den Seiten der Humanistischen Initiative, humini.de.

Wir unterhalten Behinderten- und Gleichstellungsbeauftragte. Nach diesem Vorbild brauchen wir säkulare Weltanschauungsbeauftragte. Deren Aufgabe ist es, den religionsbarrierefreien Zugang zu Einrichtungen, Debatten und Feierstunden zu gewährleisten, die in gesamtgesellschaftlichem Auftrag betrieben werden.

Kirchen sind kein neutraler demokratischer Raum. Tatsächlich sind ihre Betreiber der größte Einflussnehmer auf die Politik. Schon aus diesem Grund gehören Politik und Gebet nicht zusammen. Gegenteiliges behauptete der Pastor der Husumer Marienkirche, Friedemann Magaard, am 20. März 2019 in den Husumer Nachrichten. Vor diesem Hintergrund reanimiert die Nordkirche nun ein antiquiertes Veranstaltungsformat: Das politische Nachtgebet. Auf dem ersten Gottesdienst dieser Art wurden drei politische Themen mit Gebet und Andacht verbunden und dann vor „Gott“ angesichts geladener Referenten debattiert. Es ging um den Strukturwandel auf den Dörfern, die klimaaktivistische Aktion Fridays for Future und rechte Christen, die die Kirche unterwandern. Die initiierenden Politiker sind Astrid Damerow (CDU), Jürgen Laage (SPD), Jörg Tessin (FDP), Irene Fröhlich (Grüne) und Dr. Andreas Tietze (Grüne).

Anders, als es Herr Dr. Tietze in den Husumer Nachrichten glaubhaft machen will, ist ein höherer Zweck, dem man sich hier gemeinsam verpflichtet fühlt, nicht gegeben, da das neue Format ausschließlich die gesellschaftspolitische Mobilisierung von Christen zum Ziel hat.

Wahres gesamtgesellschaftliches Engagement ist jedoch immer auch religionsbarrierefrei. Es schafft konfessionsunabhängige Partizipations-möglichkeiten, die es allen Bürgerinnen und Bürgern erlauben, sich zu begegnen und an Debatten der gesellschaftspolitischen Willensbildung teilzunehmen, und zwar unabhängig davon, welcher Religion oder Weltanschauung sie angehören. Das ist der Gedanke, den es als gemeinverbindlich zu kultivieren gilt. Es ist der tatsächlich höhere Zweck, dem man sich als Politiker dienlich erweisen kann.

Deshalb geht es darum, Debatten- und Veranstaltungsformate zu etablieren und zu fördern, welche die gleichberechtigte und religionsunabhängige Partizipation aller Bürgerinnen und Bürger an der gesellschaftspolitischen Willensbildung ermöglichen. Beim politischen Nachtgebet tun die verantwortlichen Politiker aber das genaue Gegenteil, indem sie dafür sorgen, dass Diskurse aus einem gesamtgesellschaftlichen Raum in die Kirchen hineinverlagert werden.

Mitinitiatorin ist auch die Bischöfin a. D. der Nordkirche, Maria Jepsen, die bereits am Holocaust-Gedenktag nicht von einem Gottesdienst Abstand zu nehmen gewillt war, den sie im Kreistagsgebäude abhielt, wodurch eine staatliche Feierstunde zu einer religiösen wurde.

Das jetzige politische Nachtgebet folgt demselben Muster der religiösen Vereinnahmung. Weltliche Inhalte werden mit Andacht und Gebet verbunden. Damit sind sie nur noch für Christen zugänglich, obwohl es sich bei den dort verhandelten Themen überwiegend um Anliegen von gesamtgesellschaftlichem Interesse handelt. Unleugbar ist das der Fall, denn der Strukturwandel im ländlichen Raum sowie die klimaaktivistische Schüleraktion Fridays for Future haben keinen christlichen, nicht einmal einen religiösen Hintergrund. Sie werden beim politischen Nachtgebet lediglich kirchlich vereinnahmt, indem man der gesellschaftspolitischen Debatte dann Gebet und Andacht anhängt. Das ist unverantwortlich in der Hinsicht, da es so legitim erscheint, politische Anliegen in Verbindung mit Bekenntnisinhalten zu vermitteln. Würden alle Religionsgemeinschaften dem Beispiel der Nordkirche folgen in jener Weise, dass sie für sich und ihre Gläubigen religionskonforme Debattenformate schüfen, dann führte das nicht zu einer gemeinsamen Diskurskultur, sondern zu einer Selektionskultur, in der sich jeder nur noch den politischen Formaten zuwendet, die den eigenen religiösen Überzeugungen entsprechen.

Damit spielen die Verantwortlichen genau jenem Zustand in die Hände, von dem sie sich mit einem eigenen Programmpunkt bei ihrem politischen Nachtgebet zu distanzieren suchen; denn wer seinen Glauben angesichts von etwas so Weltlichem wie dem Strukturwandel im ländlichen Raum oder angesichts von Fridays for Future immer gleich mitverhandelt wissen muss, macht einen Schritt in jene Richtung, dem sich das brisanteste Thema des ersten politischen Nachtgebets gewidmet hat. Hier ging es um rechte Christen, die die moderaten Kirchen und die Gesellschaft unterwandern. Allerdings wird die Gesamtheit der destruktiven Kräfte in Kategorien von rechts und links heutzutage nur noch unzureichend erfasst. Im christlichen Umfeld fallen evangelikale Fundamentalisten durch ein solches Raster. Diese engagieren sich beispielsweise auch in der Flüchtlingshilfe oder in der NS-Opfer-Gedenkkultur. Rechte tun das nicht. Treten dennoch destruktive Kräfte aus dem evangelikalen Umfeld hervor, können die Ansichten so weit gehen, dass auch hier der Rechtsstaat oder Teile desselben abgelehnt werden. Dies geschieht zweifellos aus anderen Gründen, als es in der rechten Szene der Fall ist; denn Evangelikale nehmen die Bibel wörtlich. Sie betreiben eine unreflektierte Lesart des Neuen Testaments. Ähnlich handhabt es der Salafismus mit dem Koran. Hier ist die Scharia wohl das prominenteste Beispiel, angesichts dessen es religiösen Eiferern darum geht, Glaubensansichten über allgemein verbindliche Rechte und Gesetze zu stellen. Das kann in evangelikalen Kreisen ähnlich aussehen. Gesellschaftspolitische Ziele werden da mitunter direkt aus der Bibel entnommen oder mit Bibelzitaten untermauert. Dadurch wird jede Debatte obsolet; denn wer seine Ansichten religionsbedingt für unantastbar hält, disqualifiziert sich für jeden demokratischen Diskurs. Das geht mit dem Verlust nachvollziehbarer Argumentation einher. An ihre Stelle tritt die Emotionalisierung und Personalisierung von Sachverhalten. Auch aus diesem Grund ist die Bezeichnung „charismatische Bewegung“ für Teile des evangelikalen Spektrums trefflich. Gott in diesem Sinne gegenwärtig respektive erlebbar zu machen, wird schlechterdings auf alle gesellschaftlichen Bereiche bezogen, und eben auch auf solche, für die ein solches Denken und Verhalten alles andere als förderlich ist (z. B. in Politik und Justiz). Religionskonforme Debattenformate sind der erste Schritt in diese Richtung. Auch deshalb gilt es, das Bewusstsein für eine notwendige Trennung von Staat und Kirche weiter zu festigen, denn sie kann eigenverantwortlich selbst von den moderaten Religionsvertretern kaum bewerkstelligt werden.

In der letzten Legislaturperiode bekam man im Husumer Rathaus Eindrücke dessen. Verantwortlich dafür zeigte sich der Husumer Stadtverordnete Uwe Ehrich (SSW), der von 2013 bis 2018 dem Ausschuss für Schule, Kultur und Sport vorstand. Bürgeranfragen, die an den Kulturausschuss der Stadt Husum gerichtet waren, wurden da mitunter nicht mehr von der Stadt, sondern von jesus.de beantwortet.1 Hier wurden Bürgeranliegen, die an eine gewählte weltliche Instanz gerichtet waren, formal an eine religiöse übertragen. Dabei sind staatliche Einrichtungen (auch Rathäuser) grundgesetzlich zu weltanschaulicher Neutralität verpflichtet. Angesichts eines solchen Vorgangs stellt sich jedoch zurecht die Frage: Wer herrscht hier eigentlich in wessen Auftrag? – So konnte man sich von besagtem Stadtverordneten auch Glückwünsche zum Tag der Deutschen Einheit beibringen lassen, die einem das Mitdenken des biblischen Gottesstaates beim Hissen der Deutschlandfahne begreiflich machen sollten. Schwarz, Rot, Gold, so Uwe Ehrich, stünde für die „die Dunkelheit der Gottesferne“ von wo aus man „durch das Blut Jesu Christi“ letztlich „in das goldene Licht der wahren Freiheit [gelangt], die allein aus dem Glauben kommt.“2 Eine solche Umdeutung der Flaggenfarben ist nicht nur angesichts des Tags der Deutschen Einheit vollkommen deplatziert und geschichtsfern, sondern auch noch gegen jene Freiheiten gerichtet, für die die Flagge der Bundesrepublik Deutschland tatsächlich steht. Derartige Entgleisungen waren kein Einzelfall. Eine Strategie von falsch geübter Toleranz, die man nur viel zu leichtfertig im Umgang mit solchen Äußerungen an den Tag legt, kann niemals erfolgversprechend sein. – Hannah Arendt hat ihrerzeit trefflich erkannt, dass man sich auf jener Ebene verteidigen muss, auf der man angegriffen wird, was nur dafür spricht, die allgemein verbindlichen humanen Werte eben auch auf der Ebene einer Weltanschauungsgemeinschaft zu kultivieren. Andernfalls hat das die Aufgabe solch geistiger Räume zur Folge, und zwar von immer mehr Menschen, die sich zunehmend als nicht religiös begreifen. Das befreit jedoch nicht davon, sich weltanschaulich positionieren zu können, wenn man es denn muss. Andernfalls wird die Gewöhnung an einen sprachlich fixierten Wertezustand gefestigt, der sukzessive und religiös motiviert von einer formalen zu einer inhaltlichen Einflussnahme fortschreitet:

So wurde im Zuge einer Kritik an Stadt- und Dorflehrpfaden zwar irgendwann auch einmal von dem schon erwähnten Stadtverordneten zu einem Gespräch eingeladen, gleichzeitig hätte man sich aber auch einen Vortrag anhören sollen: „Warum wir in dieser Welt nichts bewirken können.“ Angesichts einer solchen These, mit der ein Politiker sein Politikerdasein ad absurdum führt und sein Amt für missionarische Zwecke nutzt, muss natürlich jeder vernünftige Mensch Einspruch erheben. Widerspricht man jedoch in einem Rahmen, der die Gestaltung des gesamtgesellschaftlichen öffentlichen Raums zum eigentlichen Inhalt hat, ist besagte eigentliche Auseinandersetzung (hier um die Stadt- und Dorflehrpfade) natürlich gestört. Sie wird abgelenkt auf den Bekenntnisinhalt. Gesellschaftspolitische Partizipation ist dann nur noch für jene möglich, die diese Glaubensansichten teilen oder sich vereinnahmen lassen, wollen sie die Debatte um die eigentliche Sachfrage nicht gefährden. Für alle anderen wird hier eine religiöse Barriere errichtet. Und hier sind wir wieder beim politischen Nachtgebet, das sich derselben Vermengung von Religion und Politik bedient. Sachfragen werden (wie im Übrigen schon das kreisweite Holocaustgedenken gezeigt hat) mit Bekenntnisinhalten verwoben und ihnen letztlich als Hürde vorgeschaltet. Diese Einflussnahme ist gängige Praxis. Solch religiösen Missionsgebaren fällt die historische Wahrheit dann genauso zum Opfer wie gesamtgesellschaftliches Engagement im öffentlichen Raum. Das lenkt von den eigentlichen Gestaltungsfragen ab und verhindert, dass Menschen, die sich anderer Wertschöpfungsquellen als den christlichen bedienen, einen gleichwertigen Zugang zu Anlässen und Debatten erhalten, die jedoch nach einer gesamtgesellschaftlichen Anteilnahme verlangen.

So täte auch die Stadt Husum gut daran, sich nicht nur für die Sprache und die Missionsgebaren des moderaten sowie fundamentalistischen Christentums zu sensibilisieren, sondern überhaupt Unternehmungen anzustreben, welche die (lokale) Demokratie zukünftig gegen religiös vereinnahmendes Denken und Wirken abzusichern suchen, ganz gleich von welcher Religion oder Weltanschauung es ausgeht. Ähnlich wie die Stelle eines Behinderten- oder einer Gleichstellungsbeauftragten bedarf es dazu eines/einer überkonfessionellen Weltanschauungsbeauftragen, die Präventionsarbeit leistet, um einerseits der religiös motivierten Vereinnahmung, aber auch einem Alltagsfundamentalismus entgegenzuwirken. Gleichzeitig würde ein überparteilicher und überkonfessioneller Weltanschauungsbeauftragter, der in jedem Rathaus, Kreis- und Landtagsgebäude einzusetzen wäre, als Anlaufstelle für Bürgerinnen und Bürger dienen, die sich von Ämtern und Volksvertretern religiöser Diskriminierung oder Bekenntnisnötigung ausgesetzt sehen. Oberstes Ziel eines solch säkularen Weltanschauungsbeauftragten wäre es jedoch, den religionsbarrierefreien Zugang aller Bürgerinnen und Bürger zu staatlichen Einrichtungen, Debatten, Veranstaltungen und Feierstunden zu gewährleisten. Es gilt, ein Gesetz zu beschließen, in dem dieser Anspruch als allgemein verbindlich festgeschrieben wird. Kurzum: Es geht um die Wahrung einer Trennung von Sach- und Bekenntnisinhalten überall dort, wo gesamtgesellschaftliche Anliegen verhandelt, gestaltet und gelebt werden sollen.

Die Notwendigkeit, eine solche Religionsbarrierefreiheit sicherzustellen, ist im ureigensten Interesse der Demokratie; Denn die Pluralität der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften wird auch in den Parlamenten noch zunehmen, da die bislang etablierten Kirchen zunehmend unattraktiver werden und Mitglieder verlieren.

Doch wenn aufgrund dieser zu erwartenden Diversität immer noch missionarische Tätigkeit geübt wird oder Glaubensfragen im Zuge von Sachfragen mitverhandelt werden müssen mit dem Ziel, Menschen und Inhalte zu vereinnahmen, dann lähmt das zweifellos alle praktisch orientierte Entscheidungsfindung und alle gestalterischen Prozesse, was nur denen nützt, die Verständigung und Demokratie ablehnen.

Von den Gläubigen und von den Religionsgemeinschaften wird daher auch eine gelebte Selbstverpflichtung verlangt, die gesamtgesellschaftlichen Räume (auch die geistigen), bekenntnisneutral zu halten. Das ist der Gesellschaftsvertrag, zu dem sich jeder Anhänger sowie Vertreter einer Kirche, Freikirche oder Weltanschauungsgemeinschaft bekennen muss, die im Angesicht der Demokratie als moderat und vertretbar gelten will. Es gilt, hier und jetzt diesen ethischen Verhaltensgrundsatz gesetzlich festzuschreiben und ihn als gemeinsame Maxime zu kultivieren.

/ Jan-Christian Petersen (05.2019)

1 Belege dafür finden sich auch in den Anhängen der entsprechenden Sitzungsprotokolle.

2 Im Jahr 2016 haben mindestens 91 Adressaten diese Glückwünsche erhalten. (Darunter die Lokalpresse, engagierte Bürgerinnen und Bürger, der Bürgermeister, der Bürgervorsteher, hiesige Politiker etc.) Eingebettet waren diese Zeilen zwischen Glückwünschen und einem Lutherspruch. Der Originaltext wird mitunter noch heute im Internet vorgehalten und ist auch öffentlich für die Bediener von Suchmaschinen einsehbar. [Sachstand vom 17.05.2019]