Angesichts künstlicher Intelligenz und dem Kosum „sozialer“ Medien zeigt uns dieser Beitrag das Authentische in uns und das, was wir als KünstlerInnen und Kulturschaffende hervorbringen sowie in der Gesellschaft verankern können. Dazu wird Ernst Cassirers „Philosophie der symbolischen Formen“ auf eine Kulturtheorie bezogen, die darstellt, wie kulturelle Inhalte entstehen und was tatsächlich sinnstiftend an ihnen ist.

Den Dingen eine Bedeutung geben
Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen definiert Kultur in den Kategorien von Sprache, Mythos und Kunst. Die geistige Tätigkeit, die der gemeinsame Nenner all dieser Ausprägungen ist, meint zunächst ein Beleben von Dingen und Phänomenen, die wir einerseits in der Natur vorfinden und dann in einer Weise wahrnehmen, die sich nicht mehr allein aus dem Vorgefundenen selbst ergeben kann. Wir legen also etwas in die Dinge hinein. Andererseits ist es nicht nur die Deutung des Vorgefundenen, die für unsere Fähigkeit spricht, Dinge geistig zu beleben, sondern auch das aktive Erschaffen von künstlichen Zeichen und Symbolen, die wir dann mit Bedeutung aufladen.

Grundlagen der Wahrnehmung
Cassirers Denken geht zunächst von einer aktiven Spontanität des Geistes aus, die es vermag, Momente von Dauer aus dem Fluss der Wahrnehmungserlebnisse herauszuheben. Der Philosoph Edmund Husserl meint in etwa dasselbe, wenn er in seiner Phänomenologie von „gelenkter Aufmerksamkeit“ spricht. Und in der Tat: Wir können unsere Konzentration zweifellos wandern lassen von einem Gegenstand hin zu einem Geräusch, von einem Stapel Bücher bis hin zu einer Unterhaltung, die im Nebenzimmer stattfindet. Besonders anschaulich drückt sich diesbezüglich der Maler David Hockney aus, der einmal in einem Interview behauptet hat, er könne ins Zentrum der der Milchstraße reisen. Er führte es vor, schloss die Augen und erklärte nach einem kurzen Augenblick des Innehaltens: „I’m back.“
Aktive gelenkte Aufmerksamkeit gegen sinnliche Passivität
Unsere Fähigkeit, die Aufmerksamkeit wandern und verweilen zu lassen, sie auf Dinge bewusst auszurichten, die nicht trieb- oder instinktgesteuert von unseren momentanen (Über)lebensnotwendigkeiten gefordert werden, ist Grundlage aller geistigen Aktivität. Zum Vergleich: Ihr gegenüber steht die sinnliche Passivität. Sie meint das Eintauchen in den Fluss der Wahrnehmungserlebnisse – ein Zustand, in den wir uns hineinfallen lassen und in dem wir gelenkt werden. Als Beispiel dient der von Algorithmen gesteuerte Fluss der sozialen Medien, der uns, was die Qualität der Erfahrung anbelangt, beinahe auf eine tierische Existenz zurückwirft.
Sinnliche Passivität und die Genusskultur
Anders als die tierische Existenz, dessen Überleben weitgehend durch zuträgliche oder schmerzliche Erfahrungserlebnisse konditioniert wird, können wir Menschen uns jedoch auch bewusst in zivilisatorische Räume begeben, welche die schmerzlichen Aspekte aus dem Wahrnehmungsfluss herauszuhalten suchen. So haben wir auch die sinnliche Passivität kultiviert. Sie zeigt sich in einer unstillbaren Kultur des Genusses, des Rausches oder der Wellness im Allgemeinen. Sie steht dem eigentlichen Kulturbegriff augenscheinlich entgegen, wird aber tatsächlich von ihm übertroffen; denn erst durch jenen Kulturbegriff, der von einer geistigen Spontanität und Aktivität ausgeht, wird auch die Kultur des Genusses überhaupt erst zu einer gestaltbaren Möglichkeit, wie sich noch zeigen lässt.
Die geistige Spontanität und eine eigene gelenkte Aufmerksamkeit ist also die Voraussetzung für einen relevanten Teil aller menschliche Kultur. Dieser willentliche Vorgang, der es uns ermöglicht, bei einem Wahrnehmungsphänomen geistig zu verweilen, ist noch ganz substanzlos. Erst die symbolische Formung vermag es, den betrachteten Augenblick aus dem Fluss der Wahrnehmungen herauszuheben und zu bewahren. Dabei findet die symbolische Formung auf drei Arten statt: Wir erschaffen Symbole des erkenntnistheoretischen, des mythischen und des künstlerischen Wirkens.
Symbolische Formungen als Grundlage unserer Kultur
Wirft man beispielsweise Gruppen von Menschen jenseits aller Zivilisation in die Welt hinein, werden sie allesamt unabhängig voneinander anfangen, Sprache, Religion und Kunst zu entwickeln. Alle Zeugnisse vergangener und gegenwärtiger Epochen lassen sich in besagte drei Kategorien einordnen. Auch wenn deren konkrete Symbolinhalte manchmal verloren gehen, zeigt sich doch auch hier die Bedeutung der symbolischen Formung zum Einen für die individuelle Identität einer Kultur und zum anderen wahrlich darin, dass sich Inhalte des menschlichen Geistes über Jahrtausende hinweg transportieren lassen.

Sprache
Was nun die Sprache anbelangt, so ist sie eine Symbolformung, deren Zeichen (Laute und Schrift) es vermögen, Konturen und Abgrenzungen aus dem Strom der Wahrnehmungsphänomene herauszuheben. Die allererste sprachliche Aussage, die ein Mensch diesbezüglich treffen kann, ist laut Cassirer eine Unterscheidung zwischen „hier“ und „dort“ respektive zwischen „ich“ und „du“, was mit einem einfachen Fingerzeig angezeigt werden kann. Es ist die erste symbolische Abgrenzung, die erste Distinktion im Sinne einer begrifflichen Scharfstellung. Sprachlich definierte Gegenstände werden auf diese Weise vergleichbar und formen ein komplexes System von Beziehungen als Weltanschauung. Das Ziel der Sprache ist die Erkenntnis.
Mythos
Was nun den Mythos betrifft, so lebt dieser aus dem unmittelbaren Eindruck, aus der Empfindung heraus. Seine geistige Aktivität formt laut Cassirer neue Verhüllungen – Zeichen, die, wie es auch die Sprache vermag, erst einmal aus dem natürlichen Fluss der Wahrnehmungsphänomene herausgehoben werden. So wird der raschelnde Busch zum Sinnbild des göttlichen Wirkens, wenn ihm widererwarten kein Raubtier entspringt und der sich fürchtende Mensch in Ansehung seiner Furcht nun ein Wunder und die Heiligkeit einer Erlösung empfindet. Die Sonne, die vom Mond verdunkelt wird, wird zum Beleg derselben göttlichen Kraft. In beiden Fällen wird ein transzendentaler Wille angenommen, der ins Zeichen hineingelesen, aber nicht als solches erkannt wird und daher undurchschaubar bleibt. Es ist ein vermeintlicher Wille, der gerade durch diese Undurchschaubarkeit seine charakteristische Form erhält – über Zeit, Raum und alle Kausalität hinweg.
Kritik an Cassirers Begriff vom Mythos
Etwas nun, das Cassirer so nicht erkannt hat, ist das Folgende; denn wenn man den Mythos von seiner einzigartigen bildenden Struktur her betrachtet, so ist sein Ziel die Hoffnung – eine Hoffnung gegen all jene Widrigkeiten, die in Natur und Erkenntnis als unausweichlich festgeschrieben werden. Stattdessen betrachtet Cassirer die Furcht und die Hoffnung auf ein und derselben Stufe. Während die Furcht aber etwas ist, das auch dem tierischen Bewusstsein als Erfahrung bekannt ist, bleibt die Hoffnung das Wesentlichste, was man überwiegend aus dem mythischen Geist heraus bildend in die Welt zu bringen vermag. Diese Hoffnung gegen alle Widrigkeiten zu stiften, ist idealerweise das Ziel der Religionen.
Kunst
Was nun die Kunst und das künstlerische Bilden als symbolische Form anbelangt, so äußert sich Cassirer allenfalls in Nebensätzen. Die künstlerische Formung ist der Prozess des Bildens an sich, der sich aus einem Schauen und Wirken zusammensetzt, das sich wechselseitig bedingt. Es sind Prozesse von Versuch und Irrtum am Maßstab des eigenen ästhetischen Empfindens. Auf diese Weise malt der Künstler beispielsweise ein Porträt, einen Sonnenuntergang, aber auch Abstraktes, das er dann gänzlich aus dem inneren Fluss der Wahrnehmung heraushebt und zur Bedeutung erklärt.
Wie bei der Sprache und beim Mythos wird auch hier die künstlerische Weltwahrnehmung in eine bestimmte Richtung gelenkt, dessen Ergebnis (das Kunstwerk) vom Menschen als eine reine Bereicherung seiner naturgegebenen Umwelt erkannt werden kann. Es ist hier nicht mehr der Sonnenuntergang selbst, sondern die malerische oder literarische Schilderung desselben – eine symbolische Form, die uns nunmehr das Empfinden allzeitig anzuregen vermag wie jene wohlig warme Berührung, die mit dem tagtäglichen Absinken unseres Zentralgestirns verblasst. Über Cassirer hinaus gedacht ist das Ziel der Kunst eine solche Ästhetik. Ihre spezifische Befähigung ist es, anregende Wirkkräfte in der Seele zu entfalten – über den naturgegebenen Erfahrungsraum hinaus.

Erkenntnis, Hoffnung und Ästhetik als höchste Ziele der symbolischen Formung
Betrachten wir Sprache, Mythos und Kunst nun von jenen Zielen her, die sich allein aus ihrem spezifischen Aufbau ergeben, dann sind es Erkenntnis, Hoffnung und Ästhetik, die wir auf dem jeweiligen Weg der symbolischen Formung in die Welt zu bringen vermögen. Das Erkennen dieser Kulturleistungen obliegt dem Willen und der persönlichen Haltung. Ihnen gegenüber steht die bereits erwähnte sinnliche Passivität, die uns, was die Persönlichkeitsentwicklung anbelangt, zu Konsumenten degradiert.
Sinnliche Passivität als konsumtive Abstumpfung (Infinite Jest)
Sinnliche Passivität mit dem Ziel des reinen Genusses, meint ein Konsumverhalten, wie es heutzutage am deutlichsten von den überwältigen Wahrnehmungsströmen der sozialen Medien verursacht wird. Die „Feeds“ erzeugen mittels lernfähiger Algorithmen eine fremdgesteuerte sinnliche Passivität in Reinform, welche die rauschhaften Elemente aus dem Fluss der Wahrnehmungserlebnisse über den tatsächlichen kulturellen und sozialisierenden Inhalt stellt. Ziel ist der Konsument, dem Auswahl und Aktivität nur vorgegaukelt wird. Sein ‚Lohn‘ ist die reine emotionale Auf- und Abregung in KI- und gruppenbezogenen Feedbackschleifen, die von jeder echten sozialen Interaktion und Verantwortung entbunden sind und weder bereichernd wirkt noch einen Mehrwert für andere zu stiften vermag.
Die Bedeutung der Soziokultur
In „Faust“ vergleicht Goethe feiernde Menschenmassen auf einem Stadtfest ebenfalls mit einem solch rauschenden Fluss, in dem es sich bis zum Sinken lustig treiben lässt. „Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.“ Er begibt sich neidvoll in eine lebenswerte Kultur, die ohne sein Erkenntnisstreben alle Vorzüge des Miteinander genießt. Was auf dieser Feier geschieht, ist das Loslassen von den gesellschaftlichen Normen, das Loslassen von Notwendigkeiten des täglichen Mühsals, um eines echten Ausbruchs willen, den wir als Ausgleich zu den Anstrengungen des Alltags pflegen. Dazu zählen neben Volksfesten auch Konzerte, Yoga-, Koch- und Kleinkunstveranstaltungen. Symbolischer Gehalt kommt schlichtweg dadurch zustande, dass Menschen dem Bedeutung beimessen. Dies ist der kulturelle Wert.
Kultur existiert jenseits ihrer Events und Veranstaltungen
Der kulturelle Wert existiert nun aber tatsächlich überwiegend in seiner symbolischen Form. Dies geschieht über die Prozesse einer Vor- und Nachbereitung. Hier hat die gemeinschaftliche Erfahrung des eigentlichen Kulturerlebnisses bereits sprachliche, mythische oder künstlerische Entsprechungen gefunden, die das Erlebte zu einem mittelbaren Gegenstand machen. Alle Kultur besteht aufgrund ihrer symbolischen Gestalt vor allem aus diesen antizipierenden bzw. rückschauenden Elementen. Natürlich ist die echte Veranstaltung unverzichtbar. Wir kommunizieren aber viel mehr über das Ereignis, als dass wir es tatsächlich erleben, und zwar heute mehr denn je in Worten, Bildern, Texten und Videos. Die Kultur findet also viel weniger während des eigentlich sinnlich erfahrbaren Anlasses statt, der ja höchstens einige Stunden andauert. Die übrige Zeitspanne respektive alles Vor- und Nachher wird von einem teils postmodernen geistigen Erleben eingenommen, das allenfalls hin und wieder in ein direkt erfahrbares Kulturereignis mündet. Das eigentliche Kulturereignis selbst existiert also die meiste Zeit, während es eben nicht direkt stattfindet, und zwar in seiner symbolischen Form. Das gilt von der Oper bis zum Bierfest für alle Kulturereignisse gleichermaßen.
Echte kulturelle Inhalte sichtbar machen
Kultur ist das Zugänglichmachen von Erkenntnissen, ästhetischen oder hoffnungsstiftenden Inhalten, die den Rezipienten helfen, sich im kulturellen Raum zu verorten. Tatsächlich erleben wir vielerorts Vereine, Institutionen, Veranstalter und Stiftungen, die eine Selbstbespiegelung nach folgendem Muster in den Vordergrund rücken: Sie sprechen vom Erfolg ihrer Kulturangebote, der oft mit Fotos einhergeht, die arbeitsame oder lächelnde Menschen vor der passenden Kulisse zeigen. Gleichzeitig lassen sie vermissen, wer tatsächlich etwas aus welchen Gründen auf der Veranstaltung getan oder gesagt hat. Letzteres ist der Stoff, der im Hinblick auf das Stiften von Erkenntnis, Ästhetik und Hoffnung von Bedeutung ist.
Jan-Christian Petersen